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Charlotte Selver: Über das Atmen

Dieser Text ist Ausschnitt eines Workshops in Sensory Awareness mit Charlotte Selver. Deutsche Übersetzung München, 1988; Original: On Breathing, SAF Bulletin Nr.1, 1971

Wir haben soeben einige Fotografien gesehen. Unter ihnen war eine von Gräsern, die am Wasser wachsen. Da lag ein solcher Reiz in der Kraft und Lebendigkeit des Grases und ein solch wundervoller Zusammenklang von Wasser, Gestein, Erde, Sonnenlicht und Schatten mit den Pflanzen, dass ich mir dachte: es gibt nichts Besseres, um uns – gleich am Anfang – bewusst werden zu lassen, dass in der Natur nichts allein steht, dass auch wir von Natur aus nicht von der Welt um uns isoliert sind und dass auch, zum Beispiel, der Prozess des Atmens mit allem verbunden ist, das in uns und um uns geschieht, genauso wie die Pflanzen mit allem, was sie umgibt, verbunden sind.

In der Tat, jedes Ereignis, jedes Hier-Sein – selbst unser Hier-Sitzen, unser aller Hier-Zusammensein – hat schon in dem Augenblick, in dem es geschieht, einen Einfluss auf uns: auf unser Atmen, unseren Blutkreislauf, auf das, was in unserem Magen geschieht, auf das Funktionieren unserer Drüsen, und so weiter. Mit anderen Worten, diese geheimnisvolle Verwobenheit mit der Umwelt, die im lebenden Organismus stattfindet, kommt in jedem Augenblick in dem wir leben, in unserer Umwelt leben, zum Ausdruck.

Wir sind gewöhnlich nicht wach genug, es wahrzunehmen, aber manchmal wird Ihnen vielleicht aufgefallen sein, dass, wenn etwas oder jemand Sie wirklich interessiert, Sie plötzlich lebendiger werden, selbst wenn Sie soeben noch müde waren. Ihr Atmen verändert sich; Ihre Vitalität verändert sich; Sie funktionieren ganz anders als zuvor. Und vielleicht fragen Sie sich, "Wie ist das möglich?"

Nirgends im Organismus gibt es Grenzen für irgendein Ereignis da zu sein.

Alles in uns kann ständig auf das reagieren, womit wir gerade in Berührung kommen – wenn wir es erlauben. Wir sind ständig mit etwas in Berührung – zum Beispiel, der Luft um uns, dem Boden unter uns, der Arbeit, die wir tun, den Menschen, denen wir begegnen... – und deshalb sind wir nie allein, nie isoliert. Der ganze Tag ist voller Einladungen, aber nur wir selbst können wahrnehmen, ob und wann wir auf sie reagieren. Die Frage ist: antwortet es in uns auf diese beständigen Einladungen, die uns jung, beweglich und reaktionsbereit halten können, immer neu, denn jede Einladung ist neu. Stellen Sie sich vor, welche Änderung eine solche Reaktionsbereitschaft in unser Leben bringen könnte.

Wem würde das gefallen? Wem nicht? Unterscheiden zu lernen zwischen spontanem und gewohnheitsmäßigem Verhalten ist eines der Hauptthemen unserer Arbeit. Wie ein Mensch lebt – gewohnheitsmäßig oder reaktionsbereit im täglichen Leben – ist die große Frage, um die sich unsere Arbeit dreht. Viele Menschen unterscheiden, zum Beispiel, nicht zwischen spontanem und gewohnheitsmäßigem Atmen. Wir haben die Vorstellung, wenn wir einfach so sind, wie wir immer sind, dann sind wir spontan; wenn wir allem mit Druck begegnen, von Ungeduld getrieben sind oder lethargisch sind, sagen wir, "Das ist meine Natur, so bin ich eben."

Wer weiß, was uns dazu gebracht hat!

Es mag zur Gewohnheit geworden sein – aber es ist eine Abweichung von unserer wahren Natur. Atmen ist immer wie der Mensch ist. Es ist der deutlichste Hinweis auf das, was im Menschen vorgeht – es sei denn – es ist manipuliert.

Viele Leute denken, dass sie "richtig" atmen sollen. Vergessen Sie das! Es hat keinen Wert, denn es gibt kein "richtiges" Atmen. Ihr Atmen verrät sehr deutlich, in welchem Zustand Sie sind. Wenn Sie reaktionsbereiter sind, ist auch Ihr Atem reaktionsbereiter. Gehen Sie an Dinge gewohnheitsmäßig heran, ist auch Ihr Atmen gewohnheitsmäßig. Wenn Sie drängeln, dann drängelt auch Ihr Atem oder er hält an. Sie können sich darauf verlassen – so wie Ihr Atmen ist, so sind Sie. Ich würde sagen, in jedem beliebigen Augenblick ist mein Atmen ich, es ist immer ich.

Wenn wir uns jetzt mehr mit dem Atmen beschäftigen, bitte verschließen Sie sich nicht gegenüber anderen Empfindungen. Alles, was in uns geschieht, ist sehr wertvoll. Wenn Sie sich nur um Atmen kümmern, machen Sie sich ärmer. Es ist viel besser, Sie erfahren erst einmal die große Vielfalt von Vorgängen und Empfindungen, die in Ihnen geschehen.

Erinnern Sie sich an die Gräser auf der Fotografie; wir arbeiten nicht an etwas Isoliertem. Wenn alles natürlich verläuft, ist die Atmung eine immerwährende Energiequelle. Sie sorgt für genau das Maß an Energie, das wir brauchen, für das, was wir gerade tun – wenn wir es erlauben.

Der Atem ist ungeheuer sensibel.

Wenn wir innerlich wach sind, wird unsere Atmung auf jedes bisschen mehr oder jedes bisschen weniger, das von uns verlangt wird, reagieren. Es ist ungefähr das Gleiche, wie wenn, zum Beispiel, ein Pianist ein Brahms-Konzert spielt. Es gibt Passagen, die große Zartheit und Ruhe verlangen, und es gibt solche, die sehr emotionell und kraftvoll sind. Und der, der spielt, muss das alles geben können, sonst spielt er einfach nicht gut.

Jeder, der Klavier spielt, kann Ihnen sagen, dass es der größten Präsenz bedarf um pianissimo zu spielen; er muss ganz da sein für dieses Pianissimo, und nur dafür. Im nächsten Augenblick muss er da sein für ein Crescendo, und dann für mehr Crescendo, bis sich die größte Kraft entwickelt. Und die gleiche wunderbare Möglichkeit haben wir beim Atmen. Wenn wir auf dem Boden liegen, wird unser Atmen auf das Liegen auf dem Boden reagieren und es wird uns nähren. Jeder Moment verlangt etwas anderes, ob wir Klavier spielen oder kämpfen, ob wir laufen oder springen – mit was auch immer wir gerade beschäftigt sind.

Die Reaktion im Atmen wird stets die, für das was wir tun, benötigte Energie zur Verfügung stellen, wenn wir sie nicht zurückhalten und innerlich zu gleichgültig sind oder gewohnheitsmäßig reagieren, so dass sie nicht spontan verlaufen kann. Wir brauchen uns nicht zu sagen, „Atme!“ Atem kommt von selber, ganz spontan, wenn wir es erlauben. Deshalb ist es das Zulassen – die Möglichkeit, mehr erlauben zu können – das wir erforschen wollen.

Wenn wir mehr dem nachgeben, was dies Zulassen bedeutet, ist der ganze Tag voller Gelegenheiten, diese Möglichkeit mehr auszuschöpfen – oder, anders ausgedrückt: allem, mit dem wir in Kontakt kommen, mit etwas mehr Liebe zu begegnen. Und die Rolle, die das Atmen dabei spielt, ist ungeheuer groß. Sobald wir offener werden für das, was uns entgegenkommt oder was wir tun, entdecken wir, dass das Erste, woran wir diese größere Offenheit erkennen können, unser Atem ist.

Mit anderen Worten, wenn das Herz berührt ist, wenn das Innere berührt ist, wenn wir wirklich zulassen, dass uns etwas – wie wir so schön sagen – berührt, dann öffnet sich etwas in uns, wird wach und interessiert und lässt uns einfach atmen. Wir machen unser Atmen nicht. Das Atmen geschieht von selbst, es wird von selbst spürbar.

Das Atmen zu erforschen, muss ein wirkliches Üben sein, aber ein Üben, das jedes Mal vollkommen neu ist – keine Wiederholung von anno dazumal (selbst von dem, was wir gerade „gelernt“ haben), sondern ein Herausfinden was geschieht bei der jeweils im Augenblick gegebenen Bedingung und Tätigkeit.

Kein Augenblick lässt sich mit einem anderen vergleichen; in jedem gibt es etwas Neues zu entdecken. Es gibt Menschen, die ein Leben lang in dieser Weise Atmen erspürt haben. Es ist eine der allerschönsten, allerbefriedigendsten Aufgaben, mit der Sie sich beschäftigen können, denn wenn Sie durch eigene Erfahrung das Atmen entdecken, werden Sie ruhiger, freier, sicherer, gesünder und lebendiger. Sie haben Zeit dafür!

Solange Sie leben, hört es nie auf; so machen Sie sich keine Sorgen darüber, wie lange Sie dazu brauchen werden!

Es ist sehr wichtig, dass Sie sich Zeit nehmen für dieses Auskundschaften des Atmens; vielleicht beginnen Sie damit, gar nicht zu atmen.

Wem ist es schon aufgefallen, dass wir alle sehr häufig den Atem anhalten? Vielleicht merken wir es nicht oder nur dann, wenn uns jemand darauf aufmerksam macht. Es ist sehr wichtig, dies zu fühlen.

Und sobald das geschieht, taucht die Frage des Erlaubens auf.

Wenn Sie pflichtbewusst sind, beginnen Sie zu atmen, sobald Sie fühlen, dass Sie aufgehört haben zu atmen. Das bedeutet, Sie tun etwas. Das bedeutet nicht, dass es in Ihnen atmen will. Vielleicht möchte Ihr Atem weiter stocken. Irgendwann werden Sie ganz sicher fühlen, dass Ihr Atem von selbst anfängt; und das ist eine wunderbare Entdeckung. Sagen Sie sich nicht den ganzen Tag, „Atme!“ Wenn Sie spüren, dass Sie Ihr Atmen anhalten, warten Sie ein bisschen. Warten Sie bis Ihr Atmen zu funktionieren beginnt für das was Sie gerade tun. Es wird Ihnen auffallen, dass Ihr Atmen dann aufhört, wenn irgendwas in Ihrer Beziehung zu dem, was Sie gerade tun, nicht ganz stimmt.

Entweder sind Sie ängstlich oder zögernd oder schüchtern oder von etwas überwältigt – vielleicht widerstrebt Ihnen etwas oder Sie halten sich aus irgendeinem Grunde zurück. Es ist psychologisch sehr interessant herauszufinden, was in dem Augenblick Ihr Atmen anhält. Es ist auch möglich, dass Sie alles mit zu viel Druck, zu viel Dringlichkeit, zu viel Aufpassen und Beobachten tun. Bei vielen Menschen hört, sobald sie aufpassen oder beobachten – bums! – das Atmen auf.

Wenn der Kopf zu beschäftigt ist, hört das Atmen auf. Es gibt Tausende von Gründen, warum das Atmen aufhören kann. Sie könnten erstaunt sein, Sie könnten erschreckt sein, Sie könnten dies oder das sein. Und es ist zwecklos deshalb mit sich ärgerlich zu sein.

Seien Sie dankbar, dass Sie es fühlen. Versuchen Sie nicht gleich, es zu verbessern, zwingen Sie sich nicht zu Veränderungen! Dann werden Sie diese herrliche Tatsache entdecken, dass das Atmen wieder von selber anfängt – wenn Sie es nicht hindern.

Das wichtigste ist, dass Sie lernen, Geduld und Respekt zu haben für das, was Sie finden (und nicht anfangen sich herumzukommandieren, „Atme!“). Ist das klar? Seien Sie hier sehr sorgfältig. Es kann die Entdeckung des spontanen Atmens völlig zerstören, wenn Sie versuchen, Ihr Atmen zu manipulieren, sobald Sie merken, dass Sie nicht atmen. Wenn Sie fühlen, dass Ihr Atem zu flach ist, was oft bedeutet, dass Sie nicht genügend Anteil nehmen an dem, was die Situation verlangt, könnten Sie vielleicht ein bisschen mehr bereit werden für das, was Sie gerade tun. Und Sie werden entdecken, dass diese Änderung in Ihrem Verhalten eine Wirkung auf Ihr Atmen hat. Und wenn sich Ihr Atmen ändert – schneller oder langsamer wird, oder wenn Sie seufzen müssen oder irgendwas anderes passieren möchte – erlauben Sie das mit Freude.

Das ist ein Weg zu lernen, was „Erlauben“ bedeutet.